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Die „Freie Presse“ Entdeckertour: „18 Uhr ist Schluss mit Schießen“ - was Cowboys, Sheriffs und & Co. im Erzgebirge treiben

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Im erzgebirgischen Geyer soll eine Westernstadt entstehen. Bis es soweit ist, gibt es hier erstmal ein Siedlercamp, in dem sich regelmäßig Cowboys, Sheriffs, fahrende Händler und andere Gestalten aus dem Wilden Westen tummeln, sogenannte Hobbyisten. Warum machen sie das? Und was genau hat das Erzgebirge mit Montana zu tun?

Geyer.

Draußen hat sich der Himmel verfinstert, Gewitterwolken ziehen über das Land. Es regnet ziemlich stark. Im Saloon sitzen die Menschen dicht gedrängt in dunklen Ecken. Ein Fremder tritt an die Theke, schwarze Kleidung, den Hut tief ins Gesicht gezogen, am Gürtel klemmt ein Colt. Fehlt nur noch, dass im Hintergrund Ennio Morricone läuft, „Spiel mir das Lied vom Tod“. Aber dann sagt er freundlich: „Noch’n Käffchen, bitte!“

Das Käffchen wird mit einem Schuss Realität serviert: Im Pappbecher, die Kaffeesahne gibt es in Tassenportionspackungen aus Plastik. Dieser Saloon steht schließlich nicht im 19. Jahrhundert, sondern im Jahr 2024, und er befindet sich auch nicht im Wilden Westen, sondern im Osten. Wobei: der ist manchmal ähnlich wild. Vor allem hier in Geyer: Auf einer Wiese gegenüber vom „Freizeitbad Greifensteine“ findet man Holzhütten und Zelte, wehen amerikanische Flaggen im Wind, ab und an fallen Schüsse.

Hinter dem Camp erstrecken sich die erzgebirgischen Weiten — und die erzgebirgischen Weiden. Pferde, Pusteblumen, wilde Wiesen. Man kann bis zum Fichtelberg gucken und bis zum Keilberg, sozusagen bis zu den sächsischen Rocky Mountains. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Straße: Nevada, Area 51, also fast. Das „Freizeitbad Greifensteine“ liegt auf der Wiese wie ein gigantisches UFO, das irgendwann mal gelandet und dann einfach liegengeblieben ist. Weil es so idyllisch ist in Geyer

Genau hier, zwischen UFO-Bad und Fichtelberg-Panorama, soll eine Westernstadt entstehen: Old Miners Creek, eine Stadt für Goldsucher und Westernfans. Doch bis es soweit ist, steht hier erst mal ein Siedlercamp, mit allem, was man so braucht im Western: Es gibt einen Saloon, eine Bank, eine Poststelle, ein paar Läden, eine Kirche, einen Friedhof. Es gibt auch einen „Grillpoint“, an dem man Roster und Steaks kaufen kann. In einer Hütte wird Whiskey hergestellt, vor einer anderen hängen rostige Waagschalen, es ist die Hütte des Richters. An einer Wäscheleine trocknen Tierfelle und Baumwollunterwäsche, dahinter ragen die Rutschen des Freizeitbades in den Himmel. Man trifft Goldgräber in der Siedlung, einen Sheriff, einen Arzt namens „Doc Holiday“, abtrünnige Outlaws, Cowboys, auch Ureinwohner, ihre Tipis stehen draußen auf der Wiese.

Old Miners Creek ist ein fiktiver Ort in Montana und ein echter Ort in Geyer, zumindest an den Wochenenden. Dann finden hier oft Events statt: Wild-West-Shows, Reiter- und Pokerturniere, Jahrmarkt und Stadtfest, Szenetreffs, Kinder- und Countryfeste. Und im Juli lädt die „Freie Presse“ zur Entdeckertour nach Old Miners Creek ein.

Alles begann am Lagerfeuer

Die beiden Chefs von Old Miners Creek heißen Tonio Werl und Andreas Hofmann, jedenfalls im echten Leben. Aber auch im echten Leben bewegen sie sich schon lange in der Darsteller- und Hobbyisten-Szene. Hobbyisten verkleiden sich in ihrer Freizeit entsprechend diversen Epochen, erfinden fiktive Charaktere mit eigenen Biografien und Geschichten, spielen Rollen und Szenen nach, die vermeintlich typisch waren für diese Zeiten. Diese Zeiten, das sind meistens das Mittelalter, die napoleonische Zeit, der amerikanische Bürgerkrieg und eben der Wilde Westen.

Tonio Werl beschreibt die Szene als eingeschworene Gemeinschaft. Eine große Community, in die man erst reinrutscht, dann reinwächst und schlielich entsteht der Wunsch, alles noch authentischer zu machen. Irgendwann, sagt er, ist man eben kostümiert und findet das gar nicht schlimm. „Andere würden sich vielleicht komisch vorkommen, für uns ist das Alltagsklamotte.“

An Wochenenden, an denen keine größeren Events stattfinden, hat Old Miners Creek oft im Normalbetrieb geöffnet, dann sind vor allem die Hobbyisten da. Etwa 35 sind es, sagt Werl, die regelmäßig kommen, auch mal von weiter weg. Die Szene ist in ganz Deutschland verstreut.

Ralf Marquardt kommt aus Meiningen, zwei Mal im Jahr. 300 Kilometer, nicht mit dem Pferd, sondern mit dem Auto, aber das ist jetzt kaputt und steht in der Werkstatt.

„Alles begann am Lagerfeuer“, sagt er. Spitze Schuhe, Kanone, Zweispitzhut, die napoleonische Zeit. Irgendwann war das langweilig, also wurde er Trapper: Fellmütze, großes Messer, das Lagerfeuer blieb. Jetzt ist er Voyageur, reisender Händler: Ledermantel, Fransen, Leinenhemd - und wahrscheinlich immer noch das Lagerfeuer. An seinem Stand verkauft er Sachen, die Hobbyisten beim Westernspielen brauchen: Alte Kaffeemühlen, Zinkbecher, Kerzenständer, Schmuck, Messer. „Northwest Company“, so heißt die fiktive Firma, für die er an den Wochenenden durch die Lande zieht. Radebeul, Schweiz, Pullman City im Harz. In seinem anderen Leben, an den ganz normalen Werktagen, ist er Industrielackierer.

Was hat das Erzgebirge mit Montana zu tun?

Eine fixe Idee sei diese Westernstadt gewesen, sagt Werl. „Im Urlaub haben wir regelmäßig Westernstädte in ganz Europa besucht. Irgendwann haben wir uns aus einer guten Laune heraus gefragt: ‚Warum machen wir das nicht selbst?‘“

Also haben sie sich nach passenden Locations umgeguckt und sind in Geyer gelandet, wo es schon Tourismus gibt – und die Greifensteine, die perfekte Kulisse für eine Westernstadt. Sie investieren privat in das Gelände, das ihnen einiges an Budget und an Arbeit abringt. Die Westernstadt organisiert sich nicht als Verein, sondern als Interessengemeinschaft, das sei einfacher, sagt Werl. Die Helfer arbeiten an den Wochenenden alle im Ehrenamt. Auch Werl hat eigentlich einen anderen Beruf: Er betreibt ein Tattoostudio in Chemnitz.

Die meisten Westernstädte in Deutschland zeigen typische Boomtowns, sagt er, aber Old Miners Creek soll anders werden: „Wir wollen eine Minenstadt mit frühstädtischem Charakter bauen, keine texanische Boomtown, eher so ‚My Little Farm‘. Die Far-West-Bewegung, das ist unsere Bewegung.“

Aber warum ausgerechnet Montana? Die Parallelen stecken schon im Namen, erklärt Werl: Montanregion, Montana, Bergbauregion. Nicht nur das: Aus dem Erzgebirge seien damals, während der Hungerzeit, ganze Dörfer nach Montana ausgewandert. Darunter viele Bergbauingenieure, die dort in den Bergwerken genauso gearbeitet hätten wie hier auch. Werl sagt: „Wir kennen tatsächlich einige Leute aus dem Erzgebirge, die amerikanische Familienmitglieder haben. Deren Urgroßväter damals dorthin ausgewandert sind“. Der Unterschied: Im Erzgebirge wurden Silbererze geschürft, in Montana Gold, in Old Miners Creek kann man beides finden.

Werl und Hofmann haben vorab lange recherchiert: Man hätte auch Texas zeigen können, sagt er, aber Kakteen im Erzgebirge, damit tue er sich schwer. Das Erzgebirge und die Südstaaten, das passt einfach nicht. Also ist es Montana geworden, der Bundesstaat im Nordwesten der USA, mit einer ähnlichen Vegetation, einer ähnlichen Bergbautradition, einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur, ähnlich konservativ. Nur die Berge sind dort höher.

„Eigentlich geht es ums Schießen“

„Schon immer“, so beginnen fast alle Antworten, wenn man die Hobbyisten fragt, warum sie das machen. Wobei Hobby untertrieben ist, es gehört schon viel Hingabe und auch eine gewisse Ernsthaftigkeit dazu, sich fast jedes Wochenende komplett in einen anderen Menschen aus einer anderen Zeit zu verwandeln.

„Ich habe schon als Kind Lasso geworfen“, sagt einer von ihnen. Wildleder, Cowboyhut, selbst gemachter Perlenschmuck. Das sei jetzt ungefähr 55 Jahre her. Damals waren es die Gojko-Mitić-Filme, die Sehnsucht des Ostens nach dem Wilden Westen, das kleine Guckloch rüber ins ferne Amerika. „30 Jahre lang habe ich davon geträumt, ein echtes Lasso zu besitzen“, sagt der Lassowerfer. Das echte Lasso hält er jetzt in der Hand, eine Spezialanfertigung aus den USA. Extra für ihn, weil er Linkshänder ist. Einen Colt, der ausgerechnet „Peacemaker“ heißt, hat er auch. Aber der ist nicht echt.

In Old Miners Creek kann es schon mal passieren, dass man plötzlich eine Waffe direkt vor die Nase gehalten bekommt. Nicht etwa, weil man sich in eine brenzlige Situation manövriert hat, sondern weil gerade mit viel Stolz erklärt wird, was das Besondere an diesem und jenen historischen Revolver ist.

„Schießen“, sagt eine Frau, die sich Caroline Elisabeth Amathy nennt, „eigentlich geht es bei den Rollenspielen immer nur ums Schießen“. Roter Satin, bauschiger Rock, weiße Lochspitze, Haarschmuck: In Old Miners Creek ist sie die Tabakhändlerin, im Vogtland, wo sie eigentlich wohnt und Carola Graf heißt, arbeitet sie in einem Museum. Die Waffen einer Frau, sie hat sie alle: Von der winzig kleinen Pistole in Silber bis zur großen Schrotflinte. Alles Schreckschusspistolen, betont sie, und: „Wir haben alle einen Waffenschein.“ Auch sie sagt: „Ich habe mich schon in meiner Kindheit für das Thema interessiert.“ Bei ihr war es „Fackeln im Sturm“, die Südstaaten. Jetzt liebt sie Rollenspiele, den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Gespielt werden kleine Szenen, mal ein Banküberfall, mal eine Entführung, und wenn der Richter da ist, gibt es auch eine Gerichtsverhandlung. Sie ist gerne die Böse, sagt Caroline Elisabeth Amathy. Auf dem Friedhof gibt es einen Grabstein mit allen Namen ihrer fiktiv verstorbenen Ehemänner, es sind insgesamt acht.

„Zuhause ist Pflicht, hier ist frei sein“

Dass sich Menschen auf ihrer Flucht vor dem modernen Alltag oft Epochen überstülpen, die politisch eigentlich gar nicht so schön, sondern auch von Kriegen, Sklaverei oder Gewalt geprägt waren, mag mancher zumindest etwas seltsam finden. Es geht hier aber nicht um Politik, sagt Werl, sondern um reine Romantik. Und diese Romantisierung, die eben auch bei Karl May stattfindet, blendet aktuelle politische Debatten wie die um kulturelle Aneignung aus. Trotzdem hat er nachgefragt bei den American Indians, so nennen sich viele amerikanische Indigene selbst, ob das okay sei, dass sich hier weiße Menschen am Wochenende als Ureinwohner verkleiden. Ja, hätten die gesagt. Viele Hobbyisten verstehen das, was sie tun, eher als Wertschätzung, als Sichtbarmachen und Nacherzählen dieser Kultur, sagt er.

„Schon als Kind hatte ich Federn im Haar“, sagt auch eine Frau, die sich als Ureinwohnerin fühlt. Lange schwarze Zöpfe, roter Filz, künstliche Elchzähne. Erst kürzlich ist sie von Schwerin ins Erzgebirge gezogen, nach Annaberg. Ganz bewusst, um näher an der Westernstadt zu leben. Was fasziniert sie an den amerikanischen Ureinwohnern? Die Geschichte, die Kultur, die Anthropologie, sagt sie. Außerdem: Das entschleunigte Leben, abseits von einem Alltag, in dem die Sinne fast nur noch überstimuliert sind. „Hier draußen ist es anders“. Immer, wenn es geht, schläft sie im Tipi. Macht Feuer und Feuerholz, kocht Tee, bastelt Schmuck, führt lange Gespräche mit den anderen Darstellern, dieses Hobby verbindet. „Zuhause ist Pflicht, hier ist frei sein“, sagt sie.

Der Regen hat sich verzogen, die Sonne scheint, kalter Wind weht über den erzgebirgischen Wiesen. Im Festzelt wird gepokert, im Hintergrund läuft immer noch nicht Ennio Morricone, sondern deutscher Schlager. „Wenn man Visionär ist, braucht man Geld“, sagt Tonio Werl, „und einen langen Atem.“ Den hat er, das hier soll groß werden. Nach 18 Uhr, wenn Old Miners Creek für Besucher schließt, geht auch für ihn der Spaß los, dann wird auch er wieder zum Hobbyisten. Inklusive Schießerei? „Wir sind hier immer noch in Deutschland. 18 Uhr ist Schluss mit Schießen.“

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