Der Tod eines Mannes am Rande des Stadtfestes, der zu beispiellosen rechten Krawallen führte: Im Spätsommer 2018 stand die "Freie Presse" vor einer ihrer größten journalistischen Herausforderungen.
Am 31. August 2018 war der Sommerurlaub früher als gedacht zu Ende. An diesem Morgen lag bei Freunden in einer Kleinstadt an der US-Ostküste die "New York Times" auf dem Küchentisch. "Massenproteste in Deutschland zeigen die Kraft des Rechtsextremismus", titelte Amerikas berühmteste Tageszeitung, darüber das Foto einer Protestkundgebung in Chemnitz. "Eine tödliche Messerstecherei schürt Fremdenhass", hieß es in dem Aufmachertext. Im Moment des Lesens war man schlagartig herausgerissen aus all den Reiseerlebnissen in der Neuen Welt, zurückgeholt in die Realität daheim in Sachsen.
Es hatte nur wenige Tage gedauert, bis die verstörenden Nachrichten aus Chemnitz, verstärkt durch überregionale deutsche Medien, bis über den Atlantik geschwappt waren. Am frühen Sonntagmorgen des 26. August 2018 war ein 35 Jahre alter Mann vor einem Döner-Laden erstochen worden - in der Chemnitzer Innenstadt, direkt gegenüber dem Redaktionsgebäude der "Freien Presse". Das Stadtfest, das an diesem Wochenende lief, wurde daraufhin abgebrochen. Und noch bevor das Amtsgericht am Montag darauf Haftbefehle gegen zweit Tatverdächtige junge Männer aus Syrien und dem Irak erließ, kam es zu einem ersten spontanen Protest mit Ausschreitungen, der sich am Folgetag zur größten Demonstration des rechten Spektrums in Chemnitz seit vielen Jahren auswuchs. Teilnehmer, mobilisiert aus der rechten Fußballfanszene, zeigten den Hitlergruß. Polizisten wurden angegriffen, Migranten attackiert. Die Staatsmacht war ohnmächtig -und die "Freie Presse" stand vor einer ihrer größten journalistischen Herausforderungen der Nachwendezeit.
Mandy Fischer leitete damals die Lokalredaktion in Chemnitz. "Es war eine Zeit im Ausnahmezustand - nicht nur für die Stadt, auch bei uns in der Redaktion", sagt sie. Alle anderen Themen mussten in diesem Moment zur Seite rücken. Die regionale Tageszeitung hatte damals jedoch nicht nur ihren Informationsauftrag gegenüber der eigenen Leserschaft zu erfüllen, ihre Redakteurinnen und Redakteure waren plötzlich auch zur Informationsquelle für Presse und Rundfunk im In- und Ausland geworden. Die Autorin des "New-York-Times"-Artikels meldete sich bei Mandy Fischer, aber auch Journalisten des ZDF oder der tschechischen Tageszeitung "Mladá fronta Dnes" standen in der Redaktion. Alle wollten wissen: Was ist da los in Chemnitz? Wie kam es zu den Ausschreitungen, gab es wirklich - wie etliche überregionale Medien berichteten und auch Politiker erklärten - Hetzjagden auf Ausländer?
Ein Unbekannter hatte ein kurzes Video im Internet veröffentlicht, das zeigt, wie am Nachmittag des 26. August 2018 in der Chemnitzer Bahnhofstraße zwei dunkelhäutige Männer offenkundig vor mehreren Männern flüchten. Ihnen wird "Haut ab", "Kanaken" und "nicht willkommen" hinterhergerufen. Verfolgt werden die Flüchtenden nicht. Die beiden Migranten, so stellt sich später heraus, hatten zuvor die rechte Demonstration gefilmt. Zugleich gab es im Nachgang dieses Abends Anzeigen bei der Polizei wegen Angriffen auf Migranten.