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Chemnitz muss Stadtfest nach Tötungsdelikt abbrechen

Am Sonntagmorgen war ein Mensch durch eine Messerstecherei im Zentrum ums Leben gekommen. Als Reaktion darauf gab es spontane Kundgebungen. Stadt und Polizei fürchteten um die Sicherheit während des Festes. In der Nacht zu Montag waren verstärkt Einsatzkräfte im Stadtgebiet unterwegs. Laut Polizei blieb es ruhig.

Der spontane Aufmarsch Hunderter Menschen nach dem gewaltsamen Tod eines 35-jährigen Deutschen in Chemnitz beschäftigt am Montag Polizei und Stadt. Ein Stadtsprecher sagte, die Geschehnisse vom Sonntag müssten ausgewertet werden. Die gesamte Nacht über waren verstärkt Einsatzkräfte im Stadtgebiet unterwegs. «Es war ruhig. Es gab keine besonderen Ereignisse in der Nacht», sagte ein Sprecher der Polizei. Wie es im Laufe des Tages weitergehen werde, müsse noch entschieden werden, so eine Sprecherin. Gerüchte in Sozialen Netzwerken, dass es ein zweites Todesopfer gegeben habe, "können wir nicht bestätigen. Das sind nur Gerüchte", sagt ein Sprecher der Polizei am Vormittag.

In Sozialen Netzwerken wird von rechten und linken Gruppierungen dazu aufgerufen, am Montag zu Kundgebungen in Chemnitz anzureisen. Unter anderem aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg haben sich Demonstrationsteilnehmer angekündigt. So will 18.30 Uhr die rechtspopulistische Bürgerbewegung Pro Chemnitz am Karl-Marx-Monument demonstrieren. Das Bündnis Chemnitz Nazifrei hat für Montag 17 Uhr zu einer Demonstration im Stadthallenpark aufgerufen. Das Bündnis will gegen die rechte Vereinnahmung des Tötungsdeliktes protestieren.

 

Die Demonstrationen am Sonntag hatten sich am Abend nach und nach aufgelöst. Derzeit würden vier Anzeigen bearbeitet, darunter seien zwei wegen Körperverletzung, eine wegen Bedrohung sowie eine wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, teilte die Polizei mit.

Das Stadtfest in der Chemnitzer Innenstadt war am Sonntagnachmittag rund fünf Stunden vor dem eigentlich vorgesehenen Ende abgebrochen worden. Stadt, Polizei und Feuerwehr hatten sich am Nachmittag zu diesem Schritt entschieden, nachdem über die sozialen Medien für 16.30 Uhr von rechten und gewaltbereiten Fußballfans zu einem Treff am Marx-Monument aufgerufen worden war. Der Duktus des Aufrufes erfüllte Stadtfestveranstalter und Sicherheitskräfte mit Sorge. Hinzu kam, dass aufgrund zahlreicher Polizeieinsätze in Sachsen am Nachmittag kurzfristig keine maßgebliche Verstärkung organisiert werden konnte.

Ursprünglich hatte die Stadt den Abbruch nach der tödlichen Messerattacke im Chemnitzer Stadtzentrum mit Pietätsgründen und Anteilnahme gegenüber den Angehörigen begründet. Damit wollte man erreichen, dass es unter den Stadtfestbesuchern zu keinen panischen Reaktionen komme. Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD), die am Abend noch sichtlich unter dem Eindruck der zurückliegenden Stunden stand, verteidigte diese Entscheidung ausdrücklich.

Nach Aussage von Polizeisprecherin Jana Ulbricht standen gegen 16.30 Uhr mindestens 800 Kundgebungsteilnehmern im Stadtzentrum maximal 50 Polizisten gegenüber. Schätzungsweise 1000 Menschen nahmen dann an einem spontanen Protestzug teil. Dieser machte auch am Tatort Halt. Am Rande der Demo kam es zu mehreren Auseinandersetzungen und teils heftigen Rangeleien zwischen offensichtlich gewaltbereiten Rechten mit Linken aber auch mit Migranten. Die Polizei konnte eine weitere Eskalation der Situation bis zum Abend verhindern, nicht zuletzt, weil im Laufe des späteren Nachmittags zahlreiche weitere Polizisten in Chemnitz zusammengezogen wurden.

Derzeit bearbeitet die Polizei zwei Anzeigen wegen Körperverletzung, eine Anzeige wegen Bedrohung sowie eine Anzeige wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte.

An einer Kundgebung der AfD in der Nähe des Tatortes beteiligten sich am frühen Nachmittag rund 100 Menschen. Diese Veranstaltung blieb laut Polizei störungsfrei.

Bei der Messerstecherei in der Nacht zu Sonntag war gegen 3.15 Uhr ein 35 Jahre alter Mann ums Leben gekommen. Er verstarb im Krankenhaus. Zwei 33 und 38 Jahre alte Männer wurden teils schwer verletzt. Nach Aussage von Polizeisprecherin Jana Ulbricht, haben sowohl der Tote als auch die beiden verletzten Männer eine deutsche Staatszugehörigkeit. Die Nationalität von zwei verhafteten 22- und 23-Jährigen, die sich während der Fahndung vom Tatort entfernt hatten, wollte die Polizei nicht bekannt geben, da noch nicht geklärt sei, ob sie überhaupt mit dem Vorfall in Verbindung stünden.

Die Tatwaffe, ein Messer, wurde nach "Freie Presse"-Informationen am Sonntag im Bereich einer Bühne des Stadtfestes in der Brückenstraße gefunden. Die Veranstaltungen waren zu diesem Zeitpunkt allerdings seit zwei Stunden beendet. Nach Polizeiangaben führte ein zunächst verbaler Disput zwischen Personen mehrerer Nationalitäten zu dem tätlichen Angriff. Erste Angaben, wonach Männer einer Frau zu Hilfe eilten, die sexuell belästigt worden war, dementierte die Polizei mehrfach ausdrücklich. Bisher gebe es keine Anhaltspunkte, dass der Auseinandersetzung eine Belästigung vorausgegangen sei. Allerdings hielten sich die Spekulationen darüber in den sozialen Medien den gesamten Tag über und heizten die Stimmung in der Stadt an.

 


<strong>Pressekonferenz zum Abbruch des Stadtfestes Chemnitz</strong>

 


Das Ende einer friedlichen Feier

Drei Tage sollte das Chemnitzer Stadtfest gefeiert werden. Doch am Sonntag kommt plötzlich der Abbruch. Ein tödlicher Angriff im Stadtzentrum in der Nacht zuvor ist nur ein Grund dafür.

Der kleine Junge hat die Situation nicht verstanden. "Gibt es hier eine Hüpfburg?", fragt er, während er mit seinen Eltern die Brückenstraße in Chemnitz entlanggeht. Hinter ihm das Riesenrad steht still. Um ihn herum haben die Händler die Läden ihrer Buden heruntergelassen. Plüschtiere, die es eigentlich zu gewinnen gab, werden aus den Regalen geräumt und in Plastiksäcke gestopft. Männer bauen die Fahrgeschäfte auseinander.

Es ist 15.45 Uhr. Für 16.30 Uhr hat die rechte Ultra-Fußballvereinigung Kaotic Chemnitz eine Versammlung am Marx-Kopf angekündigt. Inhalt: "Lasst uns zusammen zeigen, wer in dieser Stadt das Sagen hat." Warum? In der Nacht zuvor war bei einer Auseinandersetzung ein Mensch ums Leben gekommen. In den sozialen Medien ist sofort klar, dass Ausländer eine Frau belästigt haben sollen, obwohl das die Polizei dementiert. Die offizielle Medieninformation der CWE, der Chemnitzer Wirtschaftsförderung, die das Stadtfest organisiert, kommt um 15.30 Uhr. "Aus Pietätsgründen und aus Anteilnahme den Angehörigen gegenüber" werde das Stadtfest sofort beendet, heißt es. Dabei hat Geschäftsführer Sören Uhle noch am Mittag bekräftigt, die Feier werde weitergehen, da der tragische Vorfall nichts mit dem Stadtfest zu tun gehabt habe - fand er doch weit nach Ende des Festes und außerhalb des Veranstaltungs-Areals statt.

"Das ist unglaublich und nicht gut für niemanden", kommentiert Händler Viktor Bozicevic den Abbruch. Er habe Standmiete bis 20Uhr bezahlt. Jetzt müsse er bis 16Uhr das Feld räumen. "Heute sollte doch die ganze Stadt kommen", sagt er mit Blick zur Sonne. Warum das Fest vorbei ist, habe ihm niemand gesagt. Neben ihm hat Swen Kiehl aus Burgstädt sein Kinderkarussell angehalten. Warum das Fest vorbei ist, weiß auch er nicht so genau. Von dem tödlichen Vorfall in der Nacht hat Kiehl erfahren. "Dass es überhaupt soweit kommen konnte, ist Sache der Politik", sagt er. Die Schausteller in Deutschland würden unter den Verhältnissen leiden. "Die machen unsere Feste kaputt."

Die Stadtfest-Menge ist in Bewegung. Manche suchen Händler, die vielleicht doch noch offen haben, andere machen sich auf den Heimweg. Den einzigen Ruhepol bilden die Terrassen der Gastronomen am Rathaus. Dort können die Gäste sitzenbleiben. Aber das beherrschende Thema ist auch dort der Fest-Abbruch.

Niedergeschlagen kommt Michaela Girnus mit ihren beiden Söhnen dort entlang. Sie sind von Kopf bis Fuß mit Farben bedeckt, wollten beim Holi-Fest mitmachen. Dabei bewerfen sich die Teilnehmer nach indischer Tradition mit Farben und tanzen ausgelassen zu Musik. Doch Musik gibt es keine mehr, nur die Farben werden noch ausgereicht. "Wir wollten Spaß haben, jetzt sind wir traurig. Wir wollen einfach nur nach Hause", sagt Girnus.

Auch auf der Sportmeile am Wall wird zusammengepackt. "Aber ich weiß gar nicht, warum", sagt Thomas Laudeley vom Stadtsportbund. Es tue ihm für die ehrenamtlich arbeitenden Vereine leid.

"Die Entscheidung, das Fest abzubrechen, kann ich nicht nachvollziehen", sagt Enrico Friedrich aus Berlin. Mit seinem Fahrgeschäft "Polyp" sei er regelmäßig in Chemnitz zu Gast. Ob er nächstes Jahr wiederkommt? "Da bin ich nicht sicher."

Nur wenige Augenblicke später ist die Brückenstraße wieder voller Menschen. Diesmal sind es diejenigen, die dem Aufruf von Kaotic Chemnitz gefolgt sind. Es gelingt ihnen, eine komplette Runde über den Innenstadtring zu drehen. An mehreren Punkten kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Am Abend schließlich, nachdem die Demonstranten abgezogen sind, erklärt CWE-Chef Sören Uhle, dass die Begründung, man breche das Fest aus Pietätsgründen ab, vor allem der Sicherheit der Besucher gedient habe, um mit Blick auf die angekündigte Demonstration der gewaltbereiten Fußballfans eine Panik zu verhindern. Auch Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) äußert sich: "Das geht mir sehr nahe", sagt sie. Das Stadtoberhaupt zeigt sich schockiert darüber, dass es möglich ist, sich in sozialen Netzwerken zu verabreden, damit eine Stadt in Angst zu versetzen und den Abbruch eines Stadtfestes zu provozieren. "Das ist eine Situation, die vieles, was wir für ein gutes Miteinander tun, untergräbt", sagt sie.


Kommentar: Zeit für Polizeiarbeit

von Jana Peters

Es war ein turbulentes Wochenende in Chemnitz, Emotionen kochten hoch, Nerven lagen blank, viel Wut lag in der Luft. Ein Mensch ist gestorben, zwei weitere wurden schwer verletzt. Dass das niemand regungslos zur Kenntnis nimmt, ist vollkommen verständlich. Ebenso ist nachvollziehbar, dass man sich als potenzieller Stadtfestbesucher Fragen zur Sicherheit stellt. Aber das Wissen über diesen Vorfall ist dermaßen gering, dass es für schnelle Urteile nicht taugt.

Die Polizei unterstrich, dass es keinen Ermittlungsansatz gebe, in dem eine sexuelle Belästigung bei der Tat eine Rolle spielt. Auch dass die Opfer Hilfe leisten wollten, könne nicht bestätigt werden. Und trotzdem war ein Gerücht, das sich schon am Vormittag verbreitet hatte, dazu in der Lage, das Stadtfest zu sprengen. Für das Image von Chemnitz ist das eine Katastrophe.

Der Rechtsstaat ist jetzt gefragt, den Vorfall aufzuklären. Das muss so schnell wie möglich geschehen, um weiteren Gerüchten den Wind aus den Segeln zu nehmen und diejenigen zu erreichen, die noch an abgesicherten Informationen interessiert sind. Aber bis dahin sollten alle tief durchatmen und Besonnenheit walten lassen. Etwas Zeit für Ermittlungsarbeit muss man der Polizei geben, selbst wenn man skeptisch eingestellt ist. Über Schuld und Konsequenzen kann erst befunden werden, wenn sich Polizei und Staatsanwaltschaft ihrer Sache sicher sind.


Jubiläum stand im Mittelpunkt

Dass Chemnitz 875 Jahre alt ist, wird das ganze Jahr über gefeiert. Das Stadtfest sollte aber ein Höhepunkt sein

Eine Jubiläumsfeier mit Feuerwerk und Straßenumzug wollte man nicht. Stattdessen sollen das Jahr über kleine Veranstaltungen stattfinden, von denen mehr bleibt als ein großer Knall. Trotzdem galt das Stadtfest als Höhepunkt im Jubiläums-Veranstaltungskalender.

Darum war eine Reihe von Veranstaltungen im Programm extra mit der Zahl 875 gekennzeichnet. So hatten die Arbeitsgemeinschaft Blankenauer Grund und der Chemnitzer Geschichtsverein am Roten Turm ihr Stadtfest-Domizil aufgeschlagen. Wolfgang Uhlmann, Vorsitzender des Geschichtsvereins, klärte dort auch über geschichtliche Verwirrungen auf. Mit dem Bezug auf die erste nachgewiesene Erwähnung von Chemnitz im Jahr 1143 - damals wurde dem Schlossbergkloster das Marktrecht verliehen - sei man zur historischen zählweise zurückgekehrt. Die 800-Jahr-Feier 1965 habe sich am Besuch von Kaiser Barbarossa in Altenburg 1165 orientiert, der Chemnitz seinerzeit das Stadtrecht verliehen habe - der konkrete Nachweis fehle allerdings.

Etwas versteckt im Durchgang zwischen Wall und Innerer Klosterstraße konnten Passanten einen Blick auf Fotos werfen, die den Wandel der Brautmode im vergangenen Jahrhundert dokumentierten. TU-Studentinnen waren in die historischen Kleider geschlüpft, die ihnen von Chemnitzerinnen dafür zur Verfügung gestellt worden waren. Das älteste war von 1929.

Nicht nur die Stadt, auch das Fresstheater feiert in diesem Jahr Geburtstag - den 15. Auf der Bühne am Jakobikirchplatz gaben Schauspieler und Musiker eine Kostprobe ebenfalls zum Thema Hochzeit. Das Ensemble hatte im Vorfeld Chemnitzer Paare dazu aufgerufen, in ihren Hochzeitsoutfits zu erscheinen. Es kam: ein einziges. "Damit habe ich unsere interne Wette verloren, denn ich dachte, es kommt gar keiner", bekannte Theater-Gründer Andreas Zweigler. Das Paar durfte sich über Eintrittskarten zu einer Vorstellung freuen.

Ein Feuerwerk gab es am Ende übrigens doch. Allerdings in Form von Licht. Je zweimal am Abend wurde die fünfminütige Lichtshow am Freitag und Samstag gezeigt. Sie tauchte das Rathaus in Farben und verwandelte die Rathausuhr in ein tickendes Pendel.

Nach dem Abbruch am Sonntagabend bilanzierte CWE-Chef Sören Uhle, dass rund 200.000 Besucher gekommen waren. "Am Freitag und Samstag war es äußerst entspannt", sagte Uhle. Dem stimmte auch die Polizei zu, denn es habe "keine nennenswerten Störungen gegeben". (jüw/jpe)

Stadtfestbilder vom Freitag

Stadtfestbilder vom Samstag

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