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Ostbeauftragter: „Die Mehrheit im Osten war lange in politischer Apathie“

Der SPD-Politiker Carsten Schneider widerspricht Amtsvorgänger Marco Wanderwitz (CDU), der ein AfD-Verbot fordert. Im Osten engagierten sich zu wenige Menschen politisch. Die meisten hätten verlernt, Widerspruch zu akzeptieren und zu respektieren.

Freie Presse: Herr Schneider, Ministerpräsident Kretschmer erinnert die Wirtschaftspolitik der Ampel an die DDR. Wie sehr nerven solche Vergleiche den Ostbeauftragten?

Carsten Schneider: Die DDR wird immer als besonders schlimmer Vergleich herangezogen. Das ist albern und wird Michael Kretschmer auch als Ministerpräsident nicht gerecht. Eigentlich müsste er es aus eigener Erfahrung besser wissen. Von einer sozialistischen Planwirtschaft sind wir meilenweit entfernt. Deutschland ist die drittstärkste Volkswirtschaft der Welt, und gerade Sachsen zeigt, dass wir weltweit keinen Vergleich scheuen müssen.

FP: 2023 sprach er von einer Einheitsmeinung, von der eine Abweichung nicht zugelassen sei.

Schneider: Eine offizielle Einheitsmeinung gab es zu DDR-Zeiten, und diese wurde ritualisiert vorgetragen, kaum jemand glaubte daran. Heute gibt es eine Meinungsvielfalt. Die meisten haben nur nicht mehr gelernt, Widerspruch zu akzeptieren und zu respektieren. Im heutigen Diskurs sehen wir deutlich mehr Graustufen und nicht nur schwarz-weiß. Der veröffentlichte Diskurs sollte dieses vielfältige Bild aber auch abbilden.

FP: Kretschmer bezog das auch auf seine Haltung zu Russland.

Schneider: In der Ukraine-Frage vertritt Michael Kretschmer im Bereich politisch Verantwortlicher eine Einzelmeinung, die er zu Gehör bringt. Die Mehrheitsmeinung der demokratischen Bundestagsfraktionen ist anders; allerdings nicht vorgegeben oder verordnet, sondern aus Überzeugung. Manche machen es sich bei außenpolitischen Fragen zu leicht. Den Diskurs, was Sicherheit grundsätzlich bedeutet und wert ist, haben wir im Osten so nie geführt. Viele wären gern eine große Schweiz, irgendwie neutral, und weit weg von den Problemen. Ob wir wollen oder nicht: Für die Weltgemeinschaft sind wir ein gewichtiger Staat, von dem gerade in Europa viel erwartet wird, und Mitglied in einem Bündnis, das uns Frieden und Freiheit sichert.

FP: Ist Kretschmer von einem Russland-Bild im Osten getrieben?

Schneider: Ich bin ein Freund der Aufklärung. Wir sind ja im Kantschen Jahr, und Aufklärung tut immer not und gut. Um Luther zu zitieren: Man sollte wissen, was die Leute denken, aber muss nicht jedem nach dem Maul reden. Ich merke sehr oft, dass viele Ostdeutsche die USA skeptisch sehen, vielleicht weil man jahrelang in der DDR gelernt hat: das ist der imperialistische Feind. Bei der Neusortierung unserer Außen- und Sicherheitspolitik nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kann jeder sagen und denken, was er will. Wichtig ist, dass die Unverletzbarkeit der nationalen Grenzen Bestand hat. Für mich war es nicht vorstellbar, dass Russland die Ukraine angreift. Aber jetzt nehme ich Putin wörtlich: Er will die Sowjetunion mit den alten Grenzen wieder herstellen. Damit bedroht er das Baltikum und damit Nato- und EU-Gebiet. Deshalb müssen wir mehr in Sicherheit investieren, weil es um unsere Freiheit geht. Keines der Länder des ehemaligen Ostblocks will noch einmal von Moskau unterjocht werden.

Bundesgeld für Kommunen: Das wird wegen Bundeswehr-Finanzierung nicht mehr gehen

FP: Wo soll das Geld herkommen?

Schneider: In den letzten 20 Jahren haben wir für die Bundeswehr und Verteidigung immer weniger ausgegeben, das war die Friedensdividende. Wenn wir unabhängig von den USA sein wollen, müssen wir eigenständig wehrfähig sein. Das Geld dafür muss aus dem Bundeshaushalt kommen. Bisher wollten Länder und Kommunen oft vom Bund Geld für ihre Aufgaben. Das wird nicht mehr gehen. Die Länder beteiligen sich auch nicht an der Bundeswehr-Finanzierung.

FP: Zu Aussichten bei der Landtagswahl sagte SPD-Spitzenkandidatin Köpping: Kommt drauf an, ob die Ampel die Kurve kriegt.

Schneider: Gerade könnte der Rückenwind für die SPD aus der Bundespolitik für eine Landtagswahl stärker sein. Aber bis September ist noch Zeit. Ich glaube auch, dass die Leute zwischen Bundes- und Landespolitik unterscheiden. Wir wollen die Menschen mit konkreten politischen Inhalten überzeugen.

FP: Und dann steht da noch ein blauer Elefant im Raum …

Schneider: Die AfD ist im Osten übermäßig stark, das entspricht aber leider einer europäischen Entwicklung. Man würde es sich zu leicht machen, zu sagen: die Wählerinnen und Wähler sind alles Nazis. Man muss klar machen, was es bedeutet, wenn Populisten regieren würden. Viele ostdeutsche Frauen würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie das Bild einer unaufgeklärten, unemanzipierten Gesellschaft der 1950er-Jahre Westdeutschlands sehen, das die AfD verfolgt. Arbeitnehmern mit niedrigeren Einkommen muss klar sein, dass die AfD gegen den Mindestlohn gestimmt hat und eine Politik ohne Ordnung und Schutz für Arbeitnehmer und gegen deren ökonomische Interessen vertritt.

FP: Sorgen Sie sich um den Wiedereinzug der SPD in den Landtag?

Schneider: Nein, da bin ich mir relativ sicher. Die Linkspartei ist in einer schwierigen Phase der Auflösung. Da hat die SPD durchaus die Chance, wieder ein bisschen Speck auf die Rippen zu kriegen und in Sachsen und Thüringen wieder die führende Kraft im linken Spektrum zu sein. Es ist wichtig, dass keine Regierung ohne uns gebildet werden kann. Es ist dort herausfordernd, wo eigentlich SPD-nahe Wähler wie in Sachsen die Union und Michael Kretschmer wählen, damit die AfD nicht die stärkste Partei wird. Es ist ein Missverständnis, dass der mit den meisten Stimmen in der Landtagswahl den Ministerpräsidenten stellt und nicht, wer eine Koalition zusammenbekommt. Der Osten ist in einer entscheidenden Phase und die ökonomischen Rahmenbedingungen sind so gut wie nie. Wir brauchen dafür Arbeits- und Fachkräfte, und das gelingt nur mit mehr Zuzug durch die Rückkehr derer, die aus Freiberg oder Crimmitschau weggegangen sind. Aber dazu brauchen wir Offenheit vor Ort, damit sich die Zugezogenen auch aus dem Ausland willkommen und wohl fühlen.

FP: Ihr Amtsvorgänger Marco Wanderwitz hatte hohe AfD-Zustimmungswerte mit der Diktatursozialisation im Osten begründet …

Schneider: Wer in Thüringen AfD wählt, weiß, dass er eine rechtsextremistische Partei wählt, deren Chef Björn Höcke ein Faschist ist. Dass 20 Prozent der Bevölkerung diese Einstellung leider haben, sieht man auch an den Langzeitstudien des Thüringen- oder Sachsen-Monitors. Wer der Bundesregierung mit der Stimme für die AfD einen Denkzettel verpassen will, dem muss klar sein: sie selbst müssen mit dem Ergebnis vor Ort leben. Ich bin mir sicher, dass wir Leute zurückgewinnen können. Für die SPD gilt, wer eine antisemitische und rassistische Grundeinstellung hat, wer etwas gegen sexuelle oder andere Minderheiten hat, der ist bei uns falsch. Aber mit fünf, sechs, vielleicht bald sieben Parteien in den Landesparlamenten ist es extrem herausfordernd, noch fortschrittliche Mehrheiten in Landtagen und eine entsprechende Regierung zu bilden.

Demokratie verteidigen heißt, über den Gartenzaun hinweg mit denen reden, die extremere Einstellungen haben

FP: Was am Sachsen-Monitor hat Sie am meisten überrascht?

Schneider: Was wirklich verrückt ist, ist, dass 43 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, dass Deutschlands Politiker von fremden Mächten bestimmt sind und von ihnen Aufträge empfangen. Das kenne ich bisher nur von Außenseitern mit kruden Theorien der Weltverschwörung. Dass dieser Unsinn mittlerweile fast mehrheitsfähig ist, finde ich extrem verstörend. Ich bin frei gewählter Abgeordneter Thüringens. Wenn, dann hänge ich nicht von fremden Mächten, sondern von den Menschen in meinem Wahlkreis in Weimar und Erfurt ab. Aber es zeigt, wie weit Verschwörungstheorien in die Mitte vorgedrungen sind, und wie wenig politische Aufklärung da ist.

FP: Ein Fünftel sympathisiert mit einer Diktatur, mehr als die Hälfte will eine starke Hand.

Schneider: Die Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie derzeit funktioniert, die ist in Ost wie West deutlich zurückgehend, aktuell unter 50 Prozent. Das ist alarmierend. Rechtsextremisten verachten die Demokratie und wollen eine Diktatur und einen starken Führer, aber das ist die Minderheit. Die Mehrheit hat sich 1989 die Demokratie erkämpft und muss sie jetzt verteidigen. Dabei reichen politische Ersatzhandlungen wie ein Like im Netz nicht. Im Zweifel muss man über den Gartenzaun hinweg oder in der Fußballkabine mit denjenigen reden, von denen man weiß, die haben extremere Einstellungen. Das ist anstrengend, wird aber nicht anders gehen. Sonst kann man im Dorf oder der Stadt nicht mehr gut miteinander leben.

FP: Was können dann Demos gegen Rechtsextremismus ändern?

Schneider: Es ist die öffentliche Selbstvergewisserung der Mehrheit, die die Grundwerte unseres Landes stützt. Dass man nicht allein ist, den öffentlichen Raum einnehmen kann und nicht nur denen überlässt, die laut sind und grundsätzlich etwas gegen unser Land haben. Demokratie-Demos führen dazu, die Schweigespirale zu durchbrechen und zu sagen: "Die Argumente, die du bringst, stimmen nicht. Ich sehe das anders." Das macht sie unfassbar wertvoll. Ich glaube, viele werden politisch aktiver. Wir haben eine Krise der Repräsentation, weil sich so wenige an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen. Die Mehrheit war lange in politischer Apathie und das ändert sich gerade.

FP: Was ist der Grund für die Apathie?

Schneider: In Sachsen sind bei über vier Millionen Menschen vielleicht 50.000 Mitglieder einer demokratischen Partei. Das ist grotesk wenig. Die meisten haben noch nie jemanden getroffen, der in einer Partei ist, im Gemeinderat sitzt und erlebt, dass man durch politische Arbeit seine Stadt, seine Umgebung positiv verändern kann. Das war in meiner Familie auch so. Ich habe nach meinem Eintritt bei den Jusos erlebt, wie schnell man in den Austausch mit politischen Entscheidungsträgern wie Bürgermeistern oder Stadträten kommen kann. In Erfurt habe ich so verhindert, dass ein kleines Kino wegen Geldmangels geschlossen werden musste und dafür gesorgt, dass es Geld von der Stadt bekam. Ich komme aus dem Plattenbau in Erfurt-Südost und habe mir nicht vorstellen können, so was zu bewirken. Ich hoffe, dass die Politisierung, die zu den Demokratie-Demos geführt hat, auch dazu führt, dass viele Menschen auch überlegen, in eine der demokratischen Parteien einzutreten und sie zu stärken.

FP: Ihr Vorgänger befürwortet ein AfD-Verbot. Sie bisher nicht.

Schneider: Eine Verbotsdebatte führt eher dazu, dass sich auch diejenigen mit der AfD solidarisieren, die sie nicht gut finden. So ein Verfahren dauert aus guten Gründen mehrere Jahre in unserem Rechtsstaat. Es hilft auch nicht bei den Landtagswahlen in diesem Jahr. Nur die harte Auseinandersetzung hilft, dabei die Partei zurückzudrängen. Das wird ein intensiver, langer Weg, weil sie sich besonders im ländlichen Raum ausgebreitet hat. Demokratische Kräfte müssen dort aktiver sein und Optionen anbieten.

In Verwaltungen, Ministerien und Gerichten im Osten gezielt Ostdeutsche nachziehen und fördern

FP: Wie soll das gehen, wenn so viele gefestigt rechtsextrem sind?

Schneider. Es gibt gar keine andere Chance. Wir müssen miteinander auskommen. Wenn ich in einem Dorf mit anderen gut leben will, muss ich mit denen die anders denken ins Gespräch gehen und versuchen einen Konsens zu schaffen. Viele wissen nicht, was eine seriöse Informationsquelle ist, sondern nehmen alles für bare Münze, was irgendwie im Netz rumschwirrt. In Teilen hat sich der Diskurs verlagert in Chat-Gruppen, wo alles nur negativ dargestellt wird. Das geht bis zu handfester Desinformation und russischen Akteuren, die Deutschland zu destabilisieren versuchen. Das ist Teil der Kriegsführung Russlands.

FP: Nach einer Studie wirkt der Elitentransfer der 1990er jetzt noch bei Besetzung von Führungspositionen mit Ostdeutschen nach.

Schneider: Wir können nur was daran ändern, in dem wir es zum Thema machen. Diese Bundesregierung hat sich darauf geeinigt, die Repräsentanz Ostdeutscher in Führungspositionen in der Bundesverwaltung zu stärken, das ist ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag. Vorher ging man davon aus, das wächst sich einfach aus. Aber das tut es nicht. In ostdeutschen Verwaltungen, Ministerien und Gerichten sollte man gucken, dass man nach der Aufbaugeneration aus dem Westen, für die ich wirklich dankbar bin, nun auch gezielt Ostdeutsche nachzieht und fördert.

FP: Ex-Regierungschef Georg Milbradt hat gesagt, die Menschen hätten falsche Erwartungen an den Staat. Er sprach von einer "gepamperten Bevölkerung", in der keiner mehr Verantwortung übernehmen wolle. Zutreffend?

Schneider: Dieser freiheitliche Staat lebt davon, dass Menschen ihn prägen, sich aktiv einbringen. Das erlebe ich ganz oft, zum Beispiel beim Ehrenamt. Für die Ostdeutschen hat sich in den letzten 30 Jahren alles geändert. Sie mussten sich ständig neu erfinden, haben oft unterhalb ihrer Qualifikation gearbeitet und sich hinten angestellt. Da ist ein bisschen Unterstützung in Ordnung. Aber ich erlebe auch immer wieder Unternehmen, die nach Subvention fragen oder Mitnahmeeffekte im oberen Einkommensbereich, wie bei der abgeschafften E-Auto-Förderung. Da muss der Staat auch an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erinnern.

FP: Wie lange braucht es noch einen Ostbeauftragten?

Schneider: Ich arbeite jeden Tag an meiner eigenen Abschaffung. Ich habe auch das Gefühl, dass wir in der Schlusskurve sind. Aber: über die Notwendigkeit muss jede Bundesregierung neu entscheiden. Mir geht es darum, bei den Ostdeutschen Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen zu stärken, weil sie in den letzten Jahren viel geschafft haben, darauf kann man stolz sein.two/tz


Zur Person: Carsten Schneider

Der Politiker, Jahrgang 1976, wurde in Erfurt geboren und zog 1998 als damals jüngster Abgeordneter für SPD in Bundestag ein. In den Jahren 2017 bis 2021 amtierte er als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Bundestag, seit dem Antritt der Ampelregierung 2021 ist er Staatsminister im Bundeskanzleramt und Ostbeauftragter der Bundesregierung.

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