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Ehrlich, das mit den Gefühlen geht voll in Ordnung
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Die Stimme der Leserin am Telefon ist leise, etwas rau und zittrig; ich habe große Mühe, die 87-jährige Frau zu verstehen; ich konzentriere mich, drücke den Kopfhörer des Headsets ganz dicht ans Ohr, während ich den anderen Arm ausstrecke und das Fenster schließe, damit der Baustellenlärm draußen bleibt (so gut das eben geht). Zunächst beschreibt mir die Anruferin ihre Lebensumstände: Sie lebt allein, täglich kommt der Pflegedienst zweimal, sie verlässt die Wohnung nicht mehr, Verwandte hat sie keine mehr, ihre Freundinnen hat sie alle überlebt. Vom Leben außerhalb ihrer vier Wände erfährt sie viel über das Fernsehen und das Radio, keinesfalls verzichten möchte sie aber auch auf die Zeitung; der Nachbar holt sie täglich aus dem Briefkasten und legt sie ihr vor die Wohnungstür, und die wenigen Schritte bis dahin schafft sie allein.
"Ich habe sonst niemanden, ich muss Ihnen mal was sagen", erklärt sie mir dann den Grund ihres Anrufs. Ich spüre es deutlich: Ganz geheuer ist ihr das Telefonieren mit mir nicht, vielleicht ist es ihr sogar etwas peinlich. Deshalb ermutige ich sie: "Das ist doch kein Problem, ich freue mich sogar darüber, denn das hat ja auch etwas mit Vertrauen zu tun." Etwas mulmig ist mir aber auch zumute, weil es solche Anrufe schon gab und mir die Leser dann von ihren ziemlich privaten Problemen erzählt haben; weshalb ich immer dann vor der Frage stand: Wie reagiere ich darauf? Doch dieses Mal ist das nicht der Fall. Die Anruferin hat etwas in der Zeitung gelesen und möchte ihre Meinung dazu sagen.
"Entschlossen habe ich mich dazu, weil ich gestern gelesen habe, was sie auf der Leserbriefseite über Gefühle geschrieben haben", leitet sie ihr eigentliches Anliegen weiter ein, bevor sie noch einmal tief Luft holt und sagt: "Es geht um unser Eislaufpaar, um den Trainer." Ich höre, wie Papier raschelt, eindeutig eine Zeitungsseite, dann zitiert die Anruferin einen Artikel vom 30. März dieses Jahres: "Erfolg für Ingo Steuer vor Gericht - Chemnitzer Trainer darf Sportsoldaten betreuen." Ich erinnere mich an den Bericht, weil dieses Thema schon seit Monaten immer wieder mal in den Gesprächen mit Lesern angesprochen wird; deswegen verfolge ich genau, ob es neue Nachrichten dazu gibt. Doch frage ich mich: Warum ruft die 87-Jährige jetzt an, sechs Wochen nach dem Erscheinen des Artikels? Ihre Antwort möchte ich jetzt nicht weiter kommentieren, ich möchte sie für sich stehen lassen, sie ist auch so authentisch, einfach ehrlich:
"Ich habe damals geweint, weil ich mich so für Ingo Steuer gefreut habe; er hat so viel für unser Land getan, und diese ungerechte Behandlung hat er einfach nicht verdient; das muss doch mal ein Ende haben, man muss doch auch mal verzeihen können. Und Sie haben doch gestern geschrieben, dass Gefühle wichtig sind. Deshalb wollte ich Ihnen davon erzählen. Das geht doch in Ordnung, oder?"
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