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Niemand will mit mir über Sex reden

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Meine Mutter hat mir früher, ich muss so um die fünf Jahre alt gewesen sein, immer gesagt, dass ich die Augen schließen und zusammenkneifen und ganz fest an den Wunsch denken soll, dann gehe er auch bestimmt in Erfüllung. Ob es damals funktioniert hat, weiß ich nicht mehr so genau, auf jeden Fall habe ich das erste eigene Fahrrad (es war das neu lackierte meines großen Bruders) mit sieben bekommen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich nicht schon mit sechs eins wollte; so war das mit den Wünschen wohl schon damals eine Frage der Perspektive. Aber ich habe heute um kurz vor zehn daran gedacht und mir dies mit all mir zur Verfügung stehender Energie gewünscht: Hoffentlich ruft mich heute ein Leser an und will mit mir, weil er auch am frühen Morgen einen der vielen Beiträge auf einem der Kultursender gehört hat, über das Buch "50 Shades of Grey" reden.

Nur zum Verständnis: Der Roman (Kategorie "Softporno") kommt gerade mit einer Startauflage von 500.000 Stück auf den deutschen Markt (hat damit dem Vernehmen nach wohl auch Harry Potter überholt) und ist der Beginn einer dreiteiligen Geschichte, in der es offenbar nur um ein Thema geht: Sex, und zwar in der Variante, bei der allein schon das Zuschauen weh tut, es geht um Sadomaso-Praktiken. Mehr als 15 Millionen Exemplare sollen allein vom ersten Teil bislang jenseits des Atlantiks verkauft worden sein, alle drei Bände stehen in den USA unangefochten an der Spitze der Bestsellerlisten, und in den Staaten soll der Verkauf von Handschellen und Peitschen sowie anderen Spielzeugen für diesen Sex um 20 Prozent gestiegen sein.

Häufig rufen mich Leser an, weil sie über ein (meistens politisches) Thema mit mir reden wollen, und beim Gespräch stellt sich dann heraus, dass es zwar auch in der "Freien Presse" stand, aber dass die Leser bestimmte Aspekt anführen, die sie morgens im Radio gehört haben; allerdings will ich auch nicht verschweigen, dass Anrufer mit mir über ein aktuelles Ereignis sprechen wollen, wobei sie die Nachricht im Radio gehört haben und erst morgen ausführlich darüber in der Zeitung lesen werden; das liegt in der Natur der Sache, sich darüber zu ärgern bringt gar nichts. Also: Meine Hoffnung, dass ein Anrufer sagen wird, es gehe ihm um dieses neue Erotikbuch, war berechtigt. Aber:

"Eine Autobahn oder eine Schnellstraße über den Erzgebirgskamm bis nach Böhmen wäre doch eine tolle Sache und würde uns die Nachbarn viel näher bringen, finden Sie nicht auch? Vielleicht können Sie mal darüber in Ihrer Zeitung schreiben", sagte der erste Anrufer.

"Das Wetter auf der Titelseite war mal wieder ein anderes als auf der Seite mit der großen Wetterkarte", beschwerte sich ein Leser, dem ich aber (wie all den anderen zuvor) schnell verständlich machen konnte, dass die Information auf der großen Karte für Chemnitz gelten (Zitat "Vorschau für Chemnitz") und die Angaben auf der ersten Seite (Zitat "Wetter vor Ort") für die Region gelten, in der die jeweilige Lokalausgabe der "Freien Presse" gelesen wird. "Wo wohnen Sie?", fragte ich also und erhielt als Antwort: "In Plauen." Hier schien die Sonne, dort war es bewölkt, das Wetter ist wie das Leben, eben kein Wunschkonzert.

Das dritte Gespräch im Wortlaut (die Rollen ergeben sich aus dem Zusammenhang): "Gibt es bei uns eigentlich noch die Behördennummer 115?" "Das weiß ich nicht. Soll ich es für Sie herausbekommen, sie zurückrufen oder wollen Sie in der Zeitung darüber etwas lesen?" "Ich hätte es halt gern gewusst." "Wo wohnen Sie?" "In Chemnitz." "Bleiben Sie bitte in der Leitung, ich kümmere mich sofort darum." (Zur Erklärung: Während ich den Anrufer kurz in die Warteschleife legte, wählt ich mit dem zweiten Telefon auf meinem Schreibtisch die 115, hörte zuerst die freundlich Ansage, dass ich im Servicecenter Chemnitz gelandet sei, bevor sich nach etwa 20 Sekunden eine echte freundliche Stimme meldete.) "Die 115 gibt es noch, ich habe es gerade ausprobiert, ich bin durchgekommen." "Vielen Dank."

"Ich habe gerade in einer Werbeanzeige gelesen, dass es Fernseher gibt, die 140 Watt an Strom verbrauchen. Solche Geräte sollten verboten werden", teilte mir ein Anrufer mit, und ich habe ihm zugestimmt; ohne Einschränkungen und aus vollster Überzeugung.

"Es geht mir um einen Bericht über einen Unfall", sagte mir der fünfte Anrufer, weshalb ich fragte: "Wann und in welcher Ausgabe hat er denn in der Zeitung gestanden." Solche Anliegen werden häufig an mich herangetragen, weil die Leute irgendwie in das Geschehen mit einbezogen gewesen sind. Deshalb gebe ich mir große Mühe, ihnen die nötige Information zu beschaffen. Diesmal war es etwas schwieriger: "Irgendwann vor etwa drei Monaten", gab der Mann in der Leitung mir als Zeitangabe, wenigstens war er bei dem Ort auf der sicheren Seite, denn er wohnt zwei Straßen weiter von der Stelle,  wo der Unfall passiert war. Nach fast fünf Minuten hatte ich die Meldung im Archiv gefunden, ich sagte das dem Leser und fragte: "Wie kann ich Ihnen jetzt weiterhelfen?" Dies war die Antwort: "Der Unfallverursache hat ein Metallgeländer entlang des Bürgersteigs beschädigt", sagte er und fügte hinzu: "Der Knick in dem Rohr ist immer noch drin. Können Sie sich mal dafür einsetzen, dass das endlich ausgebessert wird?"

Niemand wollte heute mit mir über Sex reden.

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