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Bin mal kurz in Moskau, muss was überprüfen

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Alltäglich ist es nicht gerade, aber es kommt durchaus vor, dass ich mich für ein Thema, das mir ein Leser am Telefon vorschlägt mit der Bitte, über eine Recherche dazu doch mal nachzudenken, restlos und ohne Vorgehalte begeistern kann. Heute ist es wieder einmal passiert; am Ende aber musste ich mit einer der bittersten Enttäuschungen leben, die ich in den vergangenen drei Jahren erlebt habe. Und das kam so:

"Zunächst möchte ich Ihnen mal von einem musikalischen Wunderkind berichten, bevor ich mein Anliegen loswerde", sagte die Leserin in der Leitung als Einleitung und erweckte zum einen sofort mein Interesse, weil Berichte über Kinder mit virtuosen Fähigkeiten an einem Instrument immer ein dankbares Thema für die Lokalteile der "Freien Presse" sind, während dieser Hinweis zum anderen auch leichtes Misstrauen in mir wachrief, weil Eltern und noch mehr Großeltern häufig das Können ihrer Sprösslinge oder Enkelkinder überschätzen und dann mit der Tatsache leben müssen, dass beispielsweise die Qualifikation für die zweiten Runde von "Jugend musiziert" nicht die gleiche Qualitätsstufe wie eine "neuer Mozart" hat. Doch dieses Mal schien an der Story etwas dran zu sein, denn die Anruferin berichtete mir dies:

"Der Junge ist fünf Jahre alt und von Geburt an blind. Es spielt den Klavierpart von Tschaikowskis erstem Klavierkonzert ohne einen falschen Ton auswendig, auch Sonaten von Beethoven sind für den Knaben kein Problem", berichtete mir die Leserin, vielmehr schien sie es abzulesen, und hatte mich damit gepackt, weil ich weiß, was es bedeutet, Kompositionen von solchen Ausmaßen nur aus dem Gedächtnis zu spielen, also ohne jemals eine Note gelesen zu haben, weshalb ich aus meiner Begeisterung keine Geheimnis: "Tolle Geschichte, können Sie mir Namen und Kontaktmöglichkeiten von dem Jungen nennen?", fragte ich die Frau in der Leitung. Damit war der Wendepunkt erreicht, von nun an ging es für mich bergab mit meiner Begeisterung.

Die Leserin nannte mir einen russisch klingenden Namen und fügte hinzu: "Ich weiß nur, dass er vor 38 Jahren in Moskau gelebt hat." Nun saß ich da, froh über mein Einzelzimmer, mit offenem Mund, denn ich verstand gar nichts mehr, weshalb ich fragte: "Haben Sie nicht gesagt, dass es um ein musikalische Wunderkind geht?" Nun war die Anruferin verwirrt und meinte: "Das ist der Junge doch auch gewesen, 1975 im Alter von fünf Jahren." Ich verstand nur noch Bahnhof und fragte: "Können Sie mir sagen, was genau ich für Sie tun kann?" Die Frau konnte: "Vor mir liegt ein Artikel, den ich vorhin beim Entrümpeln meines Dachbodens gefunden habe und der vor 38 Jahren im Neuen Deutschland erschienen ist, und darin geht es um diesen Jungen aus Moskau", sagte sie und formulierte ihre Bitte: "Und nun möchte ich von Ihnen beziehungsweise von der Zeitung wissen, was aus diesem Jungen geworden ist."

Nun dachte ich, dass ich in den unendlichen Weiten des Netzes mit dem Namen des Wunderkindes ganz bestimmt eine erste Information über diesen mittlerweile erwachsenen Pianisten finden würde, die ich der Anruferin (ohne Internet) gleich mitteilen könnte, weshalb ich den Namen in die Suchmaschine eingab (mit An- und Abführung). Tatsächlich gab es vier Treffer, allerdings nur mit der einen neuen Nachricht: Der Artikel ist außer im "Neuen Deutschland" auch in der Zeitschrift "Sputnik" erschienen. Aber das habe ich der Frau in der Leitung nicht gesagt, sondern um Geduld gebeten: "Ich habe mir eine Notiz gemacht und werde die Redaktion darüber informieren und die Kollegen bitten, über einen Artikel nachzudenken." Damit war die Leserin zufrieden, und ich bin dann zu meinem Chef gegangen und habe gesagt: "Ich möchte gerne eine Dienstreise nach Moskau beantragen." Wirklich lachen konnte er darüber nicht.

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