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Ein Mann und das Leben mit einer Lüge

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Immer wenn es in Artikeln in der "Freien Presse" unmittelbar oder auch nur am Rande um den Zweiten Weltkrieg geht, rufen mich Männer an, die älter als 80 Jahre sind und die selbst von den Ereignissen zwischen 1939 und 1945 als Soldat betroffen waren. Besonders viele Anrufe waren es beispielsweise zum Jahresanfang, als in mehreren Berichten die Schlacht von Stalingrad das Thema war. Bei diesen Gesprächen ging es überwiegend darum, dass die Leser mir ihre persönlichen Erlebnisse schildern wollten, weil sie entweder mit denen in der Zeitung übereinstimmen, was eher die Ausnahme war, während es viel häufiger vorgekommen ist, dass diese Männer anderer Ansicht sich waren und die Ereignisse damals kontrovers deuten und bewerten und in diesem Sinn mir davon berichten wollten.

Diese Leser wollen stets erzählen, ich höre ihnen gern zu, ich diskutiere aber eher selten mit ihnen. Bei den drei Gesprächen, die ich wegen des Artikels "Horst Tappert war in der Waffen-SS" seit Dienstag geführt habe, war das anders; ich habe mich auf eine Diskussion eingelassen. Dafür gab es nur einen Grund, und der ist eigentlich eher selten: Ich bin mir meiner Meinung nicht ganz sicher. Anders als die drei alten Männer: Horst Tappert sei damals ein junger Mann gewesen und sei, wie sie auch, seiner Pflicht als Soldat nachgekommen, und dass er daraus später ein Geheimnis gemacht habe, könne man ihm nicht vorwerfen, zumal er sich nicht mehr verteidigen könne, waren sich die drei Leser einig. Fehler in der Jugend müsse man auch verzeihen können, und ein Leser verwies darauf, dass es ein Foto gebe, das Joseph Ratzinger als Mitglied in der Hitlerjugend zeige.

Diese Gedanken sind mir dabei durch den Kopf gegangen:

Wenn einer, der wegen seiner Rolle als Oberinspektor Derrick in der gleichnamigen Fernsehserie zu den berühmtesten Deutschen überhaupt zählt, wegen einer so wichtigen Tatsache geschwiegen oder sogar gelogen hat und wenn das vier Jahre nach seinem Tod rauskommt, dann ist das auf jeden Fall eine Nachricht, über die man reden sollte und die in die Zeitung gehört; dem haben die drei Anrufer auch nicht widersprochen, doch die Ausführlichkeit des Artikels und das Berichten über die Reaktionen darauf sei nicht angebracht gewesen, meinten die Männer.

Doch Horst Tappert lebt nicht mehr, er kann dazu nichts mehr sagen. Wie kaum ein anderer aber hat er in 281 Folgen dieser Krimiserie eine Figur verkörpert, die mit ihrer positiven Ausstrahlung bei den Fernsehzuschauern fast drei Jahrzehnte lang auf eine besonders sympathische Weise gut ankam und vor allem im Ausland den Menschen dort das Bild eines Deutschen vermittelt hat, wie sie es vielleicht nicht kannten und das sie zum Nachdenken über mögliche Vorurteile angeregt hat. Für mich war er immer ein Botschafter, wie man ihn sich für ein Land nur wünschen kann. Und im Gegensatz zu Günther Grass, der seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS vor sieben Jahren selbst öffentlich gemacht und damit seine Rolle als moralische Instanz im Nachkriegsdeutschland infrage gestellt hat, war Horst Tappert immer (nur) ein Schauspieler, der zu politischen oder gesellschaftlichen Themen weitgehend geschwiegen hat. Wenn ich an Kollegen von ihn wie beispielsweise Heinz Rühmann oder Hans Albers denke, die ihre Karriere während des Naziregimes und mit der Förderung der Machthaber begonnen haben und teilweise sogar in Propagandafilmen zu sehen waren, während sie im späteren Nachkriegsdeutschland noch viel mehr zu Ruhm und Ehre gelangten, möchte ich das Verschweigen oder die Lüge, der sich Horst Tappert schuldig gemacht hat, genau in diesem Licht betrachten. Und ich möchte, ohne dafür Schelte einstecken zu müssen, darüber nachdenken dürfen, ob ich ihm verzeihen kann; ich weiß es noch nicht, aber das wird mich noch eine Weile beschäftigen.

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