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Der Glaube an die Poesie, er ist wieder da

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Es geschehen noch Zeichen und Wunder, denn heute ist es mir tatsächlich so ergangen, dass ich an diese Redensart denken musste, weil ich diesen einen Grund für einen Anruf beim Leserobmann bislang in den vergangenen drei Jahren noch nicht ein einziges Mal gehört hatte: "Ich rufe wegen des Gedichts der Woche an, das ich in der letzten Woche auf der Kulturseite in der Zeitung gelesen habe", sagte eine Anruferin und aktivierte damit unweigerlich den Allarmmechanismus zum Schutz vor auf mich niederprasselnde Tiraden von wenig schmeichelhaften Worten der Kritik an dem Wert der modernen Lyrik, doch ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als die Leserin weiter sagte: "Es hat mir so gut gefallen, mir sind vor Freude über diese Zeilen die Tränen gekommen, und es hat mich alle vorangegangenen Verse, bei denen ich mich gefragt habe, wie es um meinen Verstand steht, fast vergessen lassen."

Während ich noch so meine Gedanken wegen dieses außergewöhnlichen Hinweises nachhing und den Worten einer Leserin lauschte, die mir von der Rückfahrt von einem Urlaub am Balaton in Ungarn im August 1968 und den Emotionen angesichts der auf einer Landstraße in der Tschechoslowakei gesichteten Panzerkolonnen erzählte, wurde mir langsam klar, dass das "Gedicht der Woche" auf jeden Fall ein Ziel erreicht hat: Die Leser setzen sich mit zeitgenössischer Lyrik auseinander allein schon deshalb, weil sie eine eindeutige Meinung dazu haben, was ihnen gefällt und was nicht. Ist das nicht, unabhängig von Maximen eines kreativen Umgangs mit der deutschen Sprache, eine der wesentlichen Aufgaben, deren Erledigung man von der Kunst im Allgemeinen und speziell im literarischen Sinne erwarten darf? Ich wollte gerade, weil ich mich an meinen Deutschunterricht vor vier Jahrzehnten erinnerte und plötzlich zugeben musste, dass eine Erörterung durchaus eine spannende Angelegenheit sein kann, damit beginnen, mir meine Gedanken  über Argumente für beide Seiten (der Einfachheit halber nenne ich sie mal "sich reimende Verse" und "freies Assoziieren mit Wortkombinationen") zu machen, als ich dabei unterbrochen wurde von einem Anrufer, der mir mit weit ausholenden Erklärungen zu verstehen geben wollte, dass "Freie Presse" nach den Berichten über den Jahrestag des Arbeitsaufstands am 17. Juni 1953 in der DDR und nach den Artikeln und Leserbriefen zum Thema "Die Rolle der NVA beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts im August 1968, jetzt unbedingt auch die Ereignisse von 1980 in Polen, als aus einer Streikbewegung heraus die Gewerkschaft Solidarnosc gegründet wurde und damit den Grundstein für den Fall der Mauer und die politische Wende in der DDR neun Jahre später gelegt hatte, zum Thema machen sollte. Nachdem der Mann mir seine Gründe dafür genannt hatte, wollte er sich gerade verabschieden, als ihm noch etwas einfiel: "Übrigens", sagte er, "fast hätte ich es vergessen. Ich soll Ihnen von meiner Frau ausrichten: Das Gedicht der Woche war diesmal echt klasse, sie hat, was ich bestätigen kann, beim Lesen laut gelacht."

Keine Panik, ich habe der Versuchung widerstanden: Dies ist das "Gedicht der Woche", das die Leser in Verzückung versetzt hat:

Sie ist mir eingegeben
die Libelle

Von Christian Lehnert

Sie ist mir eingegeben, die Libelle,
ein stilles Komma in der Luft, sie steht,
als ihr das Graslicht in die Augen weht,
noch immer zögert sie an einer Stelle ...

Weil die Bewegungen nicht ihre waren?
Weil nichts erklärt, wie etwas folgen soll?
Weil das, was kommt, nicht uns gehört, und voll
die Flügel stehen, voll von Unsichtbarem?

Und wie sie zittert, ist sie ganz für sich -
ein unwägbares, schwebendes Gestein.
Ein blaues Licht schließt sie von innen ein.

Ich sehe ihren Glanz - er schaut doch mich.
Wie aufgereihte Perlen, ihre Glieder,
in ihrem Schimmer kehrt der Sommer wieder.

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