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Das ist gut so: Der Wein und die Wahrheit
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"Können wir mal über den Artikel reden, in dem es um die gesundheitsfördernde Wirkung von Wein geht?", fragte mich heute eine Leserin, nannte mir mit "In vino veritas" die Überschrift des Berichts auf der Titelseite der "Freien Presse" und fügte hinzu: "Meiner Ansicht nach fehlt darin nämlich ein wesentlicher Aspekt." Bis zu diesem Zeitpunkt war ich davon ausgegangen, dass es ein eher normales Gespräch wird, dass ich es mit einer Expertin zu tun hatte und dass ich jetzt über den wissenschaftlichen Hintergrund der Frage, ob der regelmäßige Konsum von Wein der Gesundheit dient oder nicht und ob der Rebensaft sogar das Sterberisiko mindert, reden und weitere fachliche Details zu diesem Thema erfahren werde. Dem war nicht so, es kam ganz anders:
"Wein ist meiner Ansicht nach in erster Linie dazu da, ihn zu genießen, seinen Geist in sich aufzunehmen und ihm die Geheimnisse seiner Wirkung auf das eigene Wohlbefinden zu entlocken", meinte die Frau in der Leitung und kritisierte, dass darüber in dem Artikel kein einziges Wort stehen und dass man dem Wein großes Unrecht zufügen würde, wenn man ihn auf seine gesundheitliche Wirkung reduzieren und seinen Einfluss auf die Lebensdauer zu einem Kriterium für seine Qualität machen würde. Einerseits stimmte ich der Anruferin zu, weil es tatsächlich in dem Artikel nur um das eine Thema ging, während ich ihr andererseits auch widersprach, weil es mit keiner Wertung verbunden sei, dass sich der Autor des Berichts nur auf den einen Aspekt konzentriert habe. Die Frau in der Leitung schwieg, sagte nichts dazu.
"Sind Sie noch da?", fragte ich deshalb nach vielleicht zehn Sekunden, in denen ich auch nichts gesagt hatte. Die Leserin war noch in der Leitung und meinte: "Tut mir leid, ich war gerade so in Gedanken, denn mir geht durch den Kopf, ob sich meine eigene Einstellung zum Weintrinken ändern würde, wenn ich alle diese gesundheitlichen Aspekte darin mit berücksichtigen und über Konsequenzen nachdenken würde." Mittlerweile war ich doch etwas neugierig geworden und fragte deshalb: "Dann sind Sie wohl eine regelmäßige Weintrinkerin und kennen sich auch ein bisschen aus?" Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, aber an dieser Stelle war ich mir sicher, ein leichtes hintergründiges Schmunzeln durch die Leitung zu hören. "Das eine ja, das andere weniger. Ich trinke, was mir schmeckt, seit Jahrzehnten bereits gehört das eine Glas Rotwein am Tag zu meinen liebgewonnenen Ritualen."
"Und verraten Sie mir vielleicht, wie alt Sie sind?"
"Ich werde bald 92."
"Und Sie erfreuen sich guter Gesundheit?"
"Das will ich meinen, bis auf die kleinen Zipperlein, Sie verstehen schon, was ich meine, oder?"
"Und Sie leben allein?"
"Na klar, mir kommt keiner in die Wohnung, und das Pflegheim wird sich noch etwas gedulden müssen."
"Dann ändern Sie nichts, würde ich sagen, und genießen Sie das tägliche Glas Rotwein."
"Sehen Sie, jetzt sagen Sie es selbst, Wein muss man genießen."
"Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und ..."
"Schade ist nur, dass ich dabei immer allein bin, mein Mann ist schon lange tot."
"Das tut mir leid."
"Sagen Sie mal, junger Mann, mir kommt der gerade eine Gedanke."
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