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Mein Frühwarnsystem hat versagt

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Wenn mir ein Leser mitteilt, dass er mir etwas zu dem Artikel mit der Überschrift "Schwarzfahrer zahlen künftig 60 Euro Strafe" zu sagen hat, dann registriere ich keinerlei Alarmzeichen in meinem mentalen Warnsystem, was bedeutet, dass ich sage: "Kein Problem, ich höre Ihnen zu." Wenn der Leser mir weiter zu verstehen gibt, dass er nichts dagegen hat, dass das Bußgeld um 20 Euro erhöht wird, dann hat das zur Folge, dass mein inneres Programm "Aufmerksamkeit/Konzentration" (kurz AuKo) mir eine Erhöhung des Levels von drei auf vier signalisiert, weil etwas Unerwartetes eingetreten ist, denn die Zustimmung zu einem Abkassieren durch Obrigkeiten (Stichwort "Abzocke") ist bei mir am Telefon die absolute Ausnahme, weshalb ich frage: "Das ist ungewöhnlich, verraten Sie mir den Grund?"

Wenn mir der Leser dann als erstes verrät, dass er eifriger Nutzer des Öffentlichen Personennahverkehrs (Straßenbahn und Bus) und seit Jahren schon im Besitz einer Monatskarte sei, dann erreicht er damit, dass bei mir das Gefühl der gespannten Erwartung nicht kleiner wird, weil ich nicht weiß, was denn diese Tatsache mit der Erhöhung des Bußgelds für Schwarzfahrer zu tun haben könnte, weil er selbst davon niemals betroffen sein wird, und dass ich mich zum ersten Mal frage, worauf der Mann nun eigentlich hinauswill. Dieser Zustand der Ungewissheit hat zur Folge, dass mein AuKo mir einen weiteren Anstieg von vier und auf fünf anzeigt, woran sich auch nichts ändert, nachdem ich diesen weiteren Hinweis gehört habe: Der Leser hat schon viele Kontrollen mitbekommen, aber noch nie eine nach 18 Uhr, weshalb er davon ausgeht, dass die Quote der erwischten Schwarzfahrer deutlich größer ausfallen würde, wenn die Kontrolleure ihre Arbeitszeiten in die Abendstunden ausweiten würden.

Mein Warnsystem macht keine Anstalten, die Meldung "Widerspruch" in meine Gehirnwindungen einzuspeisen, und deshalb sehe ich auch keine Veranlassung, mein Schweigen zu beenden, denn die Gleichung "mehr Kontrollen gleich mehr erwischte Schwarzfahrer" erscheint mir nachvollziehbar. Ich ziehe also ein erstes Fazit: Bis zu diesem Zeitpunkt unterscheidet sich dieses Anliegen eines Lesers in keiner Weise von denen, wie sie täglich zwischen zehn und zwölf meinen Alltag als Leserobmann bestimmen.

Selten habe ich mich so getäuscht, noch nie zuvor hat mein in den Jahren aufgebautes Frühwarnsystem der Einschätzung derart versagt. Dies teilte mir der Leser anschließend mit:

Erstens: "Dann würde endlich auch mal diesen verwahrlosten Kerlen mit dem Metallzeug im Gesicht und den Bierflaschen und den großen Hunden gezeigt, wo es langgeht, denn eine Fahrkarte haben die ganz bestimmt nicht, so wie die aussehen und sich respektlos gegenüber den anderen Fahrgästen aufführen." An dieser Stelle beende ich das Zitat, seine weiteren Kommentare sind nicht für eine Veröffentlichung geeignet.

Zweitens: "Und was ich Ihnen außerdem noch sagen wollte: Diese Meldung auf der ersten Seite, dass die Zuwanderer in Deutschland den Sozialstaat entlasten und dass die Ausländer für einen Milliarden-Überschuss sorgen, kann noch wohl nur ein Witz sein, denn nie und nimmer können diese Zahlen stimmen."

Drittens: "Richten Sie ihrem Kollegen, der vor ein paar Tagen den Bericht über die Demonstrationen der Pegida in Dresden geschrieben hat, dass er keine Ahnung hat und mit seiner Einschätzung aber so was von daneben liegt."

Das Gespräch endete damit, dass ich den Leser nach seinem Namen fragte, denn vorgestellt hatte er sich zu Beginn nicht; eine Antwort erhielt ich nicht, er hatte aufgelegt.

Warum ich hier über dieses Gespräch berichtet habe? Ganz einfach, ich habe einen Entschluss gefasst: Ich will noch wachsamer sein. Und ganz leise, nur so für mich, singe ich den Refrain eines Liedes von Konstantin Wecker: "Genug ist nicht genug, ich lass mich nicht belügen. Schon Schweigen ist Betrug, genug kann nie genügen."

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