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Die Ohnmacht und eine unsagbar große Angst
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Eine 87-jährige Leserin hat mir heute um kurz nach zehn eine Frage gestellt, auf die ich keine Antwort hatte: "Wie oft und wie ausführlich ist in den vergangenen Wochen in Artikeln und Kommentaren darüber spekuliert worden, warum so viele Menschen auf die Straße gehen, um ihren Unmut über politische oder gesellschaftliche Verhältnisse in unserem Land zum Ausdruck zu bringen", leitete sie ihr Anliegen ein, bevor sie von mir wissen wollte: "Können Sie mir erklären, warum zur Zeit nicht Hunderttausende sich auf den Weg machen, um überall in unserem Land sich zu Friedensmärschen zusammentun und gegen diese völlig unverantwortliche Kriegstreiberei wegen des Konflikts in der Ukraine zu demonstrieren?"
Ein 83-jähriger Mann hat mich heute um zehn nach elf angerufen, weil er mit mir über die Meinungen auf der Seite Leserforum zum Konflikt in der Ukraine und zu der Frage, welche Parteien und Positionen dafür verantwortlich zu machen sind, dass eine drohende Eskalierung weiter nicht auszuschließen ist, sprechen wollte. Das hat er mir gesagt, nachdem er sich vorgestellt hatte, und fügte dann noch hinzu, dass er als Kind in Dresden die Bombardierung und den Feuersturm vor 70 Jahren erlebt hat und nur knapp dem Tod entronnen war; mehrere Familienangehörige seien ums Leben gekommen. An dieser Stelle wollte der Anrufer weitersprechen, es versagte ihm jedoch die Stimme und er weinte, während er mir schluchzend noch sagen konnte: "Diese Bilder holen mich immer wieder ein, und dann denke ich an meine Enkelkinder, und ich habe eine unsagbar große Angst, dass ..."
Eine 79-jährige Frau gab mir heute um kurz vor zwölf gleich zu Beginn zu verstehen, dass sie alleine lebt und kaum noch Kontakt mit ihrer Außenwelt hat, weshalb sie es nahezu täglich nach dem ausführlichen Studium der "Freien Presse" sehr bedauert, mit niemanden darüber sprechen zu können, was sie an vor allem an Kommentaren und Meinungsartikeln in der Zeitung gelesen hat. Umso mehr hat mich erstaunt, was sie dann sagte: "Ich will sie gar nicht lange aufhalten und mich in die Reihe der Leute stellen, die sich mal Luft verschaffen wollen", erklärte sie mir und formulierte ihr Anliegen ebenso präzise wie nachvollziehbar als Frage: "Fühlen Sie auch diese Ohnmacht, wenn Sie darüber nachdenken, welche Angst sie beschleicht, weil das Reden über einen Krieg in Europa wieder salonfähig geworden ist?" Nachdem sie mein Ja gehört hatte, sagte sie nur noch dies: "Das reicht mir, ich weiß jetzt, dass ich nicht alleine bin."
Sollte sich jemand jetzt fragen, warum vor allem ältere Leser mich anrufen, so sei ihm mitgeteilt, dass ich keine Antwort darauf habe. Nur dies möchte ich dazu loswerden: Ich bin so froh, dass es diese Menschen gibt und dass sie sich nicht scheuen, ihre Stimme zu erheben; es sollten so unendlich viel mehr sein.
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