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Chemnitz - Leben auf dem Abstellgleis
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Bei dem (völlig legalen) Überqueren von Gleisen auf dem Areal des Chemnitzer Hauptbahnhofes außerhalb der Halle wäre ich heute beinahe von einer Straßenbahn überfahren worden; nur ihr lautes Warnsignal ließ mich innehalten, erschrocken nach links schauen, von wo eigentlich kein Zug kommen dürfte, und ein paar Schritte rückwärtsgehen. Nach dieser Schrecksekunde habe ich mir das Fahrzeug einmal näher angesehen und darin eine der neuen Citybahnen erkannt, die in den nächsten Wochen innerhalb des Chemnitzer Models den Betrieb von der Zentralhaltestelle unter anderem bis nach Mittweida aufnehmen sollen. Das bedeutet: Ich steige dann in meinem Wohnort in den Zug und unmittelbar vor dem Haupteingang der "Freien Presse" wieder aus; sollte ich das Aussteigen verschlafen, was durchaus im Bereich des Möglichen liegt, wäre das nicht weiter schlimm, denn die Bahn fährt einmal ums Karree und dann wieder zurück. Seit fast 20 Jahren, in denen am Chemnitzer Modell gearbeitet beziehungsweise gefeilt wurde, warte ich auf diesen Tag, an dem es dann auch für mich losgeht; dass es fast zehn Jahre länger gedauert hat, als ursprünglich einmal prognostiziert worden war, finde ich mittlerweile nicht mehr schlimm. Diese Einleitung für meinen Blogeintrag habe ich gewählt, weil ich nicht mit der Tür ins Haus fallen und dies bekennen wollte: Ich bin sauer, aber so was von ...
Vier Leser haben mich heute angerufen, weil es ihnen ähnlich ergangen ist, nachdem sie den Artikel "Keine Chance für den Ausbau der Bahnlinie Chemnitz-Leipzig" auf der Titel der "Freien Presse" gelesen und damit erfahren hatten, dass Chemnitz in den nächsten Jahrzehnten weiter damit leben muss, nicht am Fernnetz der Bahn angeschlossen zu sein. Was voraussichtlich bis 2040 bedeutet: Wer in einen IC oder ICE steigen und sich auf die große Reise machen möchte, muss sich (im günstigsten Fall) zuerst mit einer Regionalbahn auf den Weg nach Dresden oder Leipzig machen. Über mögliche Gründe, warum das so ist, habe ich mit den Leuten am Telefon wunderbar und ziemlich fantasievoll spekulieren können; von der Vernachlässigung von Chemnitz nur deshalb, damit Leipzig und Dresden nicht in Gefahr laufen, an Bedeutung zu verlieren, bis hin zu der Tatsachse, dass man niemals wirklich infrage stellen dürfe, warum man die Autobahn 72 bis nach Leipzig gebaut hat und ob das wirklich notwendig war, reichten die Vermutungen. Nur in einem Punkt aber waren die Leser und ich uns einig: Es gibt einen Grund, vermutlich aber wird man ihn niemals erfahren, weil die Bürokratie in unserem Land so funktioniert, dass die Entscheidungsträger von heute nicht mehr die sind, die vor Jahrzehnten die entsprechenden Weichen gestellt haben, weshalb die Politiker jetzt in einer Art von nicht mehr nachvollziehbarem Gehorsam weiterführen, ohne nachzufragen, warum sie das tun. Wir waren uns deshalb: So funktioniert Politik, nicht immer, aber immer öfter.
Mein Dilemma ist ein persönliches, ich will es trotzdem nicht verschweigen: Am 1. November 2015 habe ich mein Projekt "Jahr ohne Auto" gestartet, was bedeutet, dass ich alle Fahrten zwingend mit öffentlichen Verkehrsmittel machen will, um dann im Oktober darüber entscheiden zu können, ob ich grundsätzlich ohne Blechkarosse leben kann. Weil ich aufschreibe, was ich an Kilometern unterwegs bin, kann ich diese Bilanz ziehen: Von 100 Kilometern musste ich durchschnittlich zwei mit dem Auto fahren, weil ich etwas zu transportieren hatte oder weder Busse noch Bahnen fuhren, um mich noch am gleichen Tag nach Hause zu bringen. Fragen? Ich werde hier weiter von meinem Projekt berichten. Und ich versichere: Es geht nicht ausschließlich um die Frage nach Kosten und Nutzen, vielmehr spielt der Faktor Lebensqualität eine zentrale Rolle.
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