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Politiker folgen ihrem Gewissen

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Mit mehr als zehn Lesern habe ich seit Anfang vergangener Woche über einen speziellen Punkt in dem Funktionieren beziehungsweise (von der Gegenseite betrachtet) in dem Scheitern unseres politischen Systems gesprochen. Ausgangspunkt war die Debatte über den Weg bis zur Entscheidung im Bundestag über die "Ehe für alle" und dabei die Tatsache, dass die Bundeskanzlerin ausdrücklich den Fraktionszwang aufgehoben und die Zustimmung oder Ablehnung zur Gewissensfrage erklärt hat. Neun von diesen Anrufern haben mich immer zu Beginn der Unterhaltung darauf hingewiesen, dass es für die Abgeordneten laut Paragraf 38 des Grundgesetzes überhaupt keinen Fraktionszwang geben dürfte, er also ein Verstoß gegen die Verfassung unseres Landes sei. Ich zitiere Absatz 1 dieses Artikels: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."

Vermutlich muss ich gar nicht weiter erläutern, dass es in allen Unterhaltungen mit mehr oder weniger drastischen Formulierungen darum ging, wie groß das Ausmaß der Verwerflichkeit ist, dass die sich die Bundestagsabgeordneten für gewöhnlich dem Fraktionszwang beugen, obwohl sie in der Sache womöglich eine ganz andere Meinung haben und deshalb eigentlich mit Nein stimmen müssten. Für diese Haltung habe ich viel Verständnis gezeigt und die einzelnen Punkte innerhalb der Argumentationsketten auch nie infrage gestellt, was dazu führte, dass die Leute in der Leitung alle froh waren, mal ihre Meinung sagen zu dürfen und mir in der Mehrzahl auch versichert haben, ihre Gedanken aufzuschreiben und mir zu schicken, damit ich sie eventuell als Leserbrief veröffentlichen kann.  So weit, so gut, dann aber habe ich am Ende aller Gespräche doch noch (ich gebe zu) so getan, als würde ich Verständnis für die gewählten Volksvertreter haben und sie verteidigen. Warum? Ganz ehrlich? Weil das Grundübel meiner Ansicht nach ein anderes ist und ich wollte, dass die Leser mal darüber nachdenken. Ich fasse meinen (tatsächlich provozierenden) Denkansatz mal zusammen:

Die Bundestagsabgeordneten kennen das Grundgesetz und wissen, dass sie sich nur ihrem eigenen Gewissen zu unterwerfen haben. Ich stelle fest: Und genau das tun sie auch. Denn sie können es mit ihrem Gewissen offenbar ganz wunderbar vereinbaren, bei einer Gesetzesentscheidung gegen ihre eigene Überzeugung zu stimmen, weil sie davon ausgehen können, dass ihre politische Karriere bald dem Ende entgegengehen würde und sie bei der nächste Wahl weder einen sicheren Listenplatz bekommen, noch von den lokalen Verbänden als Direktkandidat nominiert würden, wenn sie gegen die politische Linie der Parteispitze oder gegen das eigene Grundsatzprogramm stimmten. Was bedeutet: Ihr Gewissen signalisiert ihnen, dass es nicht falsch ist, wenn ihnen das Hemd näher als der Rock ist und sie ihre Ideale dem eigenen materiellen Auskommen unterordneten. Den Lesern habe ich dann abschließend gesagt: Das finde ich wirklich schlimm, aber leider weiß ich auch keinen Weg, wie man ganz konkret daran etwas ändern könnte. Eine Frau in der Leitung meinte: "Auswandern." Ein Mann, der häufiger bei mir anruft und den ich wegen seiner stets konstruktiven Kritik an Inhalten in der Zeitung zu schätzen weiß, sagte: "Zivilen Ungehorsam üben." Diesen einen Tipp eines Lesers werde ich an meine Kollegen weitergeben: "Wenn Sie demnächst die Kandidaten der Parteien für die Bundestagswahl im September vorstellen, dann stellen Sie doch mal diese Frage: Haben Sie schon mal gegen die eigene Überzeugung abgestimmt und wie konnten Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren?" Fand ich gut, diese Idee, vor allem den abschließend Zusatz: "Und fragen Sie sich selbst, was es beutet, wenn Sie ein Nein hören."

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