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Versprochen: Ich will an mir arbeiten

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Kritik der Leser nehme ich niemals persönlich, auch wenn sie mich direkt und in der zweiten Person ansprechen. Anfangs ist mir das noch eher schwer gefallen, aber mittlerweile weiß ich genau, wie ich damit umzugehen habe, wenn mir ein Anrufer beispielsweise in forschem Ton sagt (ohne Vorstellung seiner Person zuvor): "Sie haben mir heute schon wieder keine Zeitung in den Briefkasten gesteckt." Seit Montag dieser Woche allerdings bin ich in Grübeln geraten, weil sich die tadelnden Hinweise gehäuft haben, bei denen vermutlich jeder Mensch mehr oder weniger intensiv an sich selbst denken würde. Meine Gedanken behalte ich für mich, die Kritik an sich hat aber schon eine gewisse Wirkung bei mir:

Episode 1: "Sie müssen etwas sensibler werden und menschliche Befindlichkeiten stärker berücksichtigen", meinte eine Anruferin und reihte sich damit in die Liste der Leser ein, die mich angerufen haben, weil wir gleich zwei große Fotos vom Unfall  des Gewichthebers Matthias Steiner während des olympischen Wettkampfes in der Zeitung veröffentlich haben.

Episode 2: "Es wäre schön, wenn Sie erst nachdenken und dann Entscheidungen treffen", kritisierte ein Leser, weil die "Freie Presse" geschrieben hatte, dass das durchschnittliche Einkommen der 55- bis 65-Jährigen mit 2865 Euro netto deutlich über dem Durchschnitt liege (siehe auch Blog "Manchmal verstehe ich die Welt nicht mehr" von gestern). Seiner Meinung nach hätten wir die Zahl für uns behalten sollen, auch wenn sie stimmt, weil sie nur für Unruhe unter den Menschen sorge.

Episode 3: "Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, da hätten Sie ruhig mehr Fingerspitzengefühl zeigen können. Von Ihnen hätte ich nicht erwartet, dass Sie sich vor diesen Karren spannen lassen", formulierte ein Anrufer seine Kritik an dem Bericht und dem Leitartikel zu den Ereignissen rund um die Ruderin Nadja Drygalla, die wegen angeblicher Kontakte zur rechtsextremen Szene vorzeitig von den Olympischen Spielen abgereist war.

Episode 4: "Sie könnten ruhig etwas selbstbewusster auftreten und sich nicht den Mund verbieten lassen", meinte eine Leserin; den Artikel oder das Thema, um das es ihr bei diese Kritik ging, hatte sie noch nicht genannt, schwieg aber auch weiterhin. Also fragte ich nach, weil ich so etwas vermutete: "Haben Sie einen Kommentar oder einen Leitartikel zu einer politischen Debatte vermisst, haben wir Ihrer Meinung nach zu einseitig eine Diskussion beleuchtet?" Das schien die Frau in de Leitung eher zu verwirren. Der Rest der Unterhaltung im Wortlaut:
"Nein, ich meine Sie."
"Sie meinen nicht die Zeitung, nicht die Redaktion?"
"Nein."
"Sie meinen mich persönlich?"
"Ja."
"Reinhard Oldeweme, Leserobmann der Freien Presse?"
"Ja."
"Ich bin Ihnen nicht selbstbewusst genug?"
"Nein, in diesem Punkt tatsächlich nicht."
"Welchen Punkt meinen Sie denn?"
"Ihr Verhalten in der Redaktionskonferenz."
(An dieser Stelle habe ich die rote Warnblinklampe in meinem Kopf aufleuchten sehen, die immer dann aktiviert wird, wenn ich daran denke, dass ein Mitarbeiter eines dieser Radiosender am Apparat sein könnte, die gerne Menschen mit obskuren Gesprächen aufs Kreuz legen wollen, damit Sie sich der Lächerlichkeit preisgeben. Ich finde das nicht lustig, ich finde das einfach nur dämlich.) Also fragte ich vorsichtig nach:
"Sie waren dabei?"
"Nein."
"Aber es geht Ihnen um etwas, was ich in einer Redaktionskonferenz gesagt oder getan habe."
"Genau."
"Wie haben Sie denn davon erfahren?"
"Aus der Zeitung."
"Aus der Freien Presse?"
"Natürlich, eine andere lese ich nicht." (Ich war verwirrt, restlos, ich verstand nur noch Bahnhof.)
"Können Sie mir genau sagen, wo Sie das gelesen haben?"
"Nichts leichter als das: Die Überschrift lautet 'Sitte und Anstand'. Erschienen ist der Artikel am Mittwoch, 8. August auf der Seite Leserforum. Autor ist Reinhard Oldeweme, Leserobmann der Freien Presse. Und er schreibt dort im dritten Absatz: "Gemeint hat er (Anmerkung: Der Kollege auf dem Platz neben mir.) meinen manchmal moralisierenden Unterton in dieser Kolumne, der ihn an eine Predigt erinnert, geschockt aber hat ihn meine Reaktion: Ich nickte, sagen durfte ich nichts, denn der Chef schaute schon böse." (Ich begann nun, das Anliegen der Anruferin zu verstehen, weshalb ich gezielter fragte, wohl wissend, dass es doch nicht um ein sinnloses Spaßtelefon handelt.)
"Sie meinen, ich hätte den strengen Blick des Chefs ignorieren und dem Kollegen meinen Standpunkt näher erläutern sollen?"
"Genau."
"Vielleicht haben Sie da Recht."
"Ganz bestimmt."
"Also arbeite ich daran, das verspreche ich Ihnen."
"Das finde ich gut, ich mag nämlich sonst direkte Art, Dinge auf den Punkt zu bringen und kein Blatt vor dem Mund zu nehmen."
"Vielen Dank."
"Das war's von meiner Seite, einen schönen Tag noch, und tschüss dann."

Nun stellt sich mir an dieser Stelle die Frage: Wird mein Chef diesen eher längeren Blogeintrag lesen und wird er es bis zum Schluss schaffen? Ich warte mal ab, was passiert; das mit dem Selbstbewusstsein kann ich bis dahin schon mal etwas trainieren.

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